{"id":2016,"date":"2019-06-09T20:12:38","date_gmt":"2019-06-09T18:12:38","guid":{"rendered":"https:\/\/xplore-berlin.de\/?page_id=2016"},"modified":"2019-06-09T20:12:39","modified_gmt":"2019-06-09T18:12:39","slug":"xplore-berlin-2018-review-by-jeanne-philippe","status":"publish","type":"page","link":"https:\/\/xplore-berlin.de\/de\/xplore-berlin-2018-review-by-jeanne-philippe\/","title":{"rendered":"xplore Berlin 2018 Bericht von Jeanne Philippe"},"content":{"rendered":"
Jedes Festival hat eine ganz eigene Infrastruktur, eine ganz eigene Architektur und bildet eine eigene Sozialstruktur heraus. Nehmen wir die \u201cFusion\u201d. Das Festival f\u00fcr (elektronische) Musik, Theater, Performance und Kino auf einem ehemaligen russischen Milit\u00e4rflugplatz in Mecklenburg Vorpommern, das innerhalb von zwanzig Jahren von einem Festabend mit 100 Personen zum gr\u00f6\u00dften \u201eZeltlager der Republik\u201c mit rund 75.000 Besuchern herangewachsen ist. Die ehemaligen Hangare, in denen zur Zeit des Ostblocks die sowjetischen Flieger parkten, werden als Musik- und Eventb\u00fchnen genutzt und die fr\u00fcheren Rollfelder werden durch tempor\u00e4re Installationen, wie Skulpturen aus Schrott, G\u00e4rten aus H\u00e4ngematten, W\u00e4ldern mit Discokugeln und Streetfoodwagons zu Flaniermeilen. Programm gibt es 24 Stunden an f\u00fcnf Tagen, die Nacht wird zum Tag. Ob man schl\u00e4ft oder durchfeiert, unterliegt dem eigenen Ermessen und keiner Norm. Hier wird in Extase getanzt, es werden Newcomer entdeckt, bekannte DJs gefeiert,Vortr\u00e4ge, Workshops und Auff\u00fchrungen besucht. Man verkleidet sich auff\u00e4llig, debattiert, trinkt Alkohol, nimmt Drogen oder l\u00e4sst es. Wird in Theaterkreisen von einer \u201eKrise des Theaters\u201c gesprochen, so k\u00f6nnen weder Netflix noch Spielkonsolen mit der Intensit\u00e4t dieser Live-Erfahrung mithalten.<\/p>\n\n\n\n
Seit den 1990er Jahren spricht man von einer \u201eFestivalisierung der Gesellschaft\u201c (H\u00e4u\u00dfermann: Stadtpolitik), doch die Geschichte des Festivals, mit allen Merkmalen die wir heute z.B. auf der Fusion erleben, geht auf die Dionysien, einem mehrt\u00e4gigen Fest zu Ehren des Wein- und Fruchtbarkeitsgottes Dionysos, im antiken Griechenlands zur\u00fcck: Bei den Dionysien l\u00e4sst sich eine Entwicklung von dessen religi\u00f6sem Ursprung zu einem Fest mit kultischen Gesangs-, Tanz-, und Opferriten bis zur griechischen Trag\u00f6die bzw. Kom\u00f6die verzeichnen. Und auch sonst verf\u00fcgen die Dionsysien \u00fcber typische Merkmale eines Festivals: Es handelt sich um ein themengebundenes oder kuratiertes Festival, das zeitlich befristet und r\u00e4umlich begrenzt erfolgte und durch seinen spektakul\u00e4ren Charakter f\u00fcr hohe Sichtbarkeit bei Publikum und Medien sorgte. Nicht zuletzt hat dessen bemerkenswerte Architektur den Stellenwert des \u201eantiken Griechenlands\u201c bis heute als Alleinstellungs-merkmal der Stadt Athen manifestiert.<\/p>\n\n\n\n
Wenn es hei\u00dft, Berlin sei \u201earm aber sexy\u201c (Wowereit: 2006), dann ist hiermit die Attraktivit\u00e4t Berlins auch auf sinnlicher Ebene gemeint. Die Selbst-Wahrnehmung, das Selbstbild und die Selbstdarstellung Berlins in Gegen\u00fcberstellung mit anderen St\u00e4dten, wie der B\u00fccherstadt Leipzig,der Messestadt Hannover oder dem ehemaligen Westdeutschen Regierungssitz Bonn, spielt sehr bewusst mit dem verruchten Image, das ihr seit den \u201eGoldenen Zwanziger Jahren\u201c des 20. Jahrhunderts anhaftet. Ein Zeitraum, der die Phase des Wirtschaftsaufschwungs und der Bl\u00fcte von Kunst, Kultur und Wissenschaft zwischen 1924 bis zur Weltwirtschaftskrise in 1929 kennzeichnet: Berlin war die drittgr\u00f6\u00dfte Metropole der Welt und Zentrum eines neuen, hedonistischen Lebensgef\u00fchls. Urbanisierung, Industrialisierung, Aktienhandel und soziale Verwahrlosung auf der einen Seite brachten den Aufstieg des Berliner Am\u00fcsierbetriebs zum internationalen Publikumsmagneten mit sich und machten die Stadt mit dem B\u00e4ren im Wappen zur Hauptstadt der Schwulen und Lesben, zum Tempel f\u00fcr Fetisch, Okkultismus, Drogen und die Freie K\u00f6rperkulturbewegung. Hier schlie\u00dft auch die als \u201eSerie der Superlative\u201c angek\u00fcndigte Produktion \u201eBabylon Berlin\u201c (2018)an: Die Produktion spannt einen historischen Bogen \u00fcber 100 Jahre Zeitgeschehen, \u00fcberschreibt dieses mit dem Slogan: \u201earm aber sexy\u201c und verleiht dem Hedonismus Berlins einen Marktwert sowohl im Bereich des Filmbusiness \u2013 auch hier kn\u00fcpft die Stadt mit \u201eBabylon Berlin\u201c an die erfolgreiche Vergangenheit des Ufa-Palasts und das Image von internationaler Filmproduktion vor der Vormachtstellung Hollywoods an \u2013 als auch im Bereich des Tourismus.<\/p>\n\n\n\n
Freilich erzeugt diese \u201ePolitik der gro\u00dfen Ereignisse\u201c, wie die Inszenierung von \u201eBabylon Berlin\u201c eine h\u00f6here Sichtbarkeit als Kontinuit\u00e4t \u2013 aber gerade weil es diese Kontinuit\u00e4ten auch gibt, kann Berlin aus dieser \u201eTradition\u201c f\u00fcr sich einen Erfolg generieren \u2013 offenbar auch ohne die Kontinuit\u00e4ten zu f\u00f6rdern. Und so profitiert Berlin, will es sein Image als \u201esexy\u201c pflegen, auch von der Arbeit Felix Ruckerts und dessen Xplore Festival, das der Kreativit\u00e4t und Sexualit\u00e4t gewidmet ist.<\/p>\n\n\n\n
Xplore ist keine kommerzielle Auspr\u00e4gung eines Lust-Ortes, wie etwa der Kitkatclub. Die Xplore spielt an der Schnittfl\u00e4che zwischen Choreographie und Sexualit\u00e4t, an der Grenze zwischen Choreographie und Performance-Kunst und bildet insofern eine Sub- und Nischenkultur, da Berlin die F\u00f6rderung der Arbeit von Felix Ruckert seit 2006 eingestellt hat. Im Zweifel zieht sich die F\u00f6rderpolitik eben doch auf ihre Armut zur\u00fcck. Berlin ist pr\u00fcde geworden oder bigott.<\/p>\n\n\n\n
W\u00e4hrend Tom Tykwer den Kriminalroman \u201eDer nasse Fisch\u201c (2008) von Volker Kutscher studiert, praktiziere ich bei Lina Bangsbo Yoga: \u201eIf you open your asshole you open your mind.\u201c Nichts daran ist spektakul\u00e4r. Alles daran ist effektiv: Beim Feueratem wird nicht nur die Bauchdecke nach innen gezogen sondern auch der Genitalbereich. Im nach unten schauenden Hund wird nicht nur der R\u00fccken gedehnt sondern der After zum Himmel gereckt. Auf Wunsch erg\u00e4nzt durch leichtes Flogging, das erh\u00f6ht die Wahrnehmung f\u00fcr Po und Analbereich: \u201aAh ja: Hier kann ich mich noch ein bisschen weiter strecken.\u2019<\/p>\n\n\n\n
W\u00e4hrend 40 Millionen Euro f\u00fcr die teuerste deutsche Fernsehproduktion aller Zeiten rekrutiert werde, hat Krisana Psychologie studiert und Mazen seinen Doktor in Neurologie geschrieben. Inzwischen besch\u00e4ftigen sich die beiden mit Trauma und \u00fcben mit ihren Workshopteilnehmern Zust\u00e4nde und M\u00f6glichkeiten des Umgangs mit Gefahr. Wir stellen uns vor: Ein B\u00e4r: Wir boxen in die Luft, k\u00e4mpfen um unser \u00dcberleben, Br\u00fcllen lautstark. Der B\u00e4r verschwindet. Wir sch\u00fctteln uns aus und h\u00fcpfen. H\u00fcpfen. Immer wieder h\u00fcpfen. Das teilt dem Nervensystem mit: Alles ok. Alles ist gut. Wenn Kinder sich freuen, h\u00fcpfen sie ganz unmittelbar. Wenn wir h\u00fcpfen, freuen wir uns. So einfach ist Neurologie als angewandte Praxis. Wir stellen uns vor: Ein Nashorn. K\u00e4mpfen geht nicht. Das Horn ist st\u00e4rker als wir. Also rennen wir. Schreiend durch den Raum. Auf der Flucht. Geschafft. Wir sind entkommen. Sch\u00fctteln. H\u00fcpfen. Das Sch\u00fctteln und H\u00fcpfen wirkt wie ein Radiergummi im Nervensystem. Das Nervensystem begreift: Die Gefahr ist vorbei. Wir stellen uns vor: Ein Tiger. Ein Tiger ist st\u00e4rker als wir. K\u00e4mpfen geht nicht. Ein Tiger ist schneller als wir, fl\u00fcchten geht nicht. Also Freeze. Still und Stumm stehen wir auf einem Bein im Raum. Der Tiger muss geglaubt haben, wir seien B\u00e4ume. Gefahr vorbei. Sch\u00fctteln, H\u00fcpfen. Ein neuer Zustand von Neutralit\u00e4t ist erreicht. Erstens: Da ist keine Gefahr. Zweitens: Wenn da eine Gefahr ist, bin ich ihr gewachsen. So einfach ist Neuroscience. Small things, wie diese \u00dcbung, make big changes. Ein neues Bewusstsein: Es gibt keine Gefahr, der ich nicht gewachsen w\u00e4re. Und von M\u00e4nnern geht keine Gefahr aus.<\/p>\n\n\n\n
W\u00e4hrend die Dreharbeiten von \u201eBabylon Berlin\u201c erfolgreich voranschreiten, praktiziere ich die \u201eBonobo Erfahrung\u201c im Workshop von Jason Hall und lerne vom Tier in mir: Bonobos sind unter allen Affenarten jene, die die gr\u00f6\u00dfte genetische \u00c4hnlichkeit mit dem Menschen aufweisen. Bonobos leben als Matriarchat in Gruppen. Ber\u00fchrung und Sexualit\u00e4t sind Mittel der Gemeinschafts- und Beziehungspflege, wer im Zoo l\u00e4nger als zehn Minuten vor dem Bonobok\u00e4fig ausharrt, wird mehrere sexuelle Interaktionen zu sehen bekommen. Bonobos leben explizit polygam. Zirka f\u00fcnfzig Workshopteilnehmer praktizieren im Workshop von Jason Klarheit in der Kommunikation, Humor sowie Respekt vor den Grenzen Anderer: \u201eIf someone says \u201eno\u201c to you and \u201eyes\u201c to someone else, that is\u2026 beautiful.\u201c Gegenseitiges Studium von Grimassen, gegenseitiges F\u00fcttern, F\u00fcttern bei Stress durch die Simulation von Nahrungsmittelknappheit, Verlust und Wiederfinden eines Gruppenmitglieds, Umgang mit einer Gewitternacht sind \u00dcbungsfolgen und Experimente, bei denen die F\u00e4higkeiten zur (Selbst-) F\u00fcrsorge, Durchsetzungskraft und sozialen Interaktion durch die Identifikation mit einem anderen Selbst (dem Bonobo) und der Interaktion in einer Community auf Zeit spielerisch neu erfahren und das eigene Verhaltens-Repertoire erweitert wird.<\/p>\n\n\n\n
W\u00e4hrend Berlin immer noch an seinem verruchten Image schraubt, habe ich einen neuen Lieblingssong:<\/p>\n\n\n\n
I never loved this hard this fast before\/ but then again I never loved a boy like you before\/ I never had somebody sweep me off the floor\/ The way you do.
I never kinked this hard this long before\/ But then again I never fucked a boy like you before\/ I never had someone I could fuck hardcore\/ Until I met you <\/p>Tami Tamaki<\/cite><\/blockquote>\n\n\n\nW\u00e4hrend \u201eBabylon Berlin\u201c 5.000 Komparsen castet hat und an 300 Drehorten insgesamt 200 Tage dreht, beobachte ich, wie zwei Shibari- K\u00fcnstler zwei Frauen gemeinsam in einem Bondage einbinden, die sich, w\u00e4hrend alle anderen Bewegungsm\u00f6glichkeiten eingeschr\u00e4nkt sind, sich sanft gegenseitig an der Schulter k\u00fcssen.<\/p>\n\n\n\n
W\u00e4hrend die Premiere des Films am 28. September 2017 in Berlin gefeiert wird ejakuliere ich zum ersten Mal. Unsere Wege und Blicke kreuzen sich am Programmaushang. Ich wei\u00df noch nicht wohin. Er nimmt mich bei der Hand. Seine Augen sehen sehr alt und sehr jung zugleich aus. Es f\u00fchlt sich sicher an. Ich wei\u00df noch nicht, was kommt, aber ich bin offen daf\u00fcr. Ich muss pinkeln aber ich gehe nicht. Stattdessen bieten Mara, Hannah und Matis in ihrem Workshops mehr Drinks: Wasser in 0,5l Bechern. Neugierde und \u00c4ngstlichkeit spielen in mir wie Licht und Schatten unter der Sommersonne. Mara, Hannah und Matis haben eine Zeremonie vorbereitet. Ich h\u00f6re, aber verstehe nicht. Stattdessen vertraue ich, dass der Prozess mich leitet.<\/p>\n\n\n\n
Frauen. Starke Frauen versammeln sich. \u00dcbungen. Ich verlagere das Gewicht von einem Bein auf das Andere. Es f\u00fchlt sich schwanger an, so stark pinkeln zu m\u00fcssen. Wir bekommen gezeigt, erkl\u00e4rt und erl\u00e4utert, wie weibliche Ejakulation funktioniert. Ach, so einfach ist das!? Die \u00dcbungen f\u00fchlen sich an wie Geburtsvorbereitung: Hockposition mit Partner, tiefes Atmen. Mit verschr\u00e4nkten Armen von hinten gehalten werden. Gewicht an den Anderen abgeben, entspannen. Jawoll: Only females can prepare females for better sex or for giving birth. Und dann geht es los: Approaching my mate. My mate for 30 minutes. Slowly I walk towards him. Seeking for support of another woman. Mara holds me, like shown before. I am supported. I let go. Slowly at first. Then, helping myself with my hand. I ejaculate. For the pleasure of an other. Yet: This is no charity. I feel devotion, dedication, pleasure. Devotion so easy to give because the other remains receptive. Graceful. Thirsty at times. And I feed him through my well-being. By simply letting go. I receive his gratitude with my open heart. I lay down. I am released. My cells let go. Yes. So very easy: No orgiastic breathing, no screaming, just pleasure on both sides. And that was it.<\/p>\n\n\n\n
Und w\u00e4hrend der Film raus kommt, pinkle ich vertrauensvoll auf M\u00e4nner. So what? Und manchmal schl\u00e4ft auch meine Libido und da ist nix zu machen. Und dann schaue ich Netflix.<\/p>\n\n\n\n
\u201eBabylon Berlin.\u201c Das Image einer verruchten Stadt. 1920 und 2020 hat Berlin den Ruf, \u201earm aber sexy\u201c zu sein. Schade, dass Strukturen, die so wesentlich zur sexuellen Emanzipation von Frauen und M\u00e4nnern beigetragen haben darin so wenig \u00f6ffentliche, strukturelle oder politische Unterst\u00fctzung erhalten. Und so bleibt die Xplore ein Festival mit einer eigenen Infrastruktur, einer eigenen Gesellschaft, die einen ihr eigenen Raum von sozialer Einbindung und emotionaler Sicherheit hervorbringt; ein kuratiertes Festival, das zeitlich befristet und r\u00e4umlich begrenzt erfolgt und als spektakul\u00e4r gelten kann, obwohl die Vielfalt der Sexualit\u00e4t allt\u00e4glich und normal ist. Dass in Berlin aber die Vielfalt der Sexualit\u00e4t allt\u00e4glich ist, das verdankt Berlin weder Klaus Wowereit noch Michael M\u00fcller sondern vielmehr Felix, Judith, Mara, Sarka und all den Anderen.<\/p>\n\n\n\n
Dass diese Vielfalt der Sexualit\u00e4t in Berlin allt\u00e4glich und selbstverst\u00e4ndlich ist, haben weder Klaus Wowereit noch Michael M\u00fcller, sondern Felix, Judith, Mara, Sarka und die vielen anderen bei Xplore zu verdanken.<\/p>\n\n\n\n
Jeanne Philippe (Berlin, Okt 2018)<\/em><\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"
Die Kontinuit\u00e4t der sexuellen Freiheit in einer einst liberalen Stadt Jedes Festival hat seine eigene Infrastruktur, seine eigene Architektur und schafft seine eigene soziale Struktur. Nehmen wir \u201eFusion\u201c: Dieses Festival f\u00fcr (elektronische) Musik, Theater, Performance und Kino auf einem ehemaligen russischen Milit\u00e4rflugplatz in Mecklenburg-Vorpommern ist innerhalb von zwanzig Jahren von einem festlichen\u2026<\/p>\n